Umrisse Nacht

Mystisches, Schmerz, Trauer, Depression, Angst, Abschied, Tod
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Germany Marc Donis
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Umrisse Nacht

Ungelesener Beitrag von Germany Marc Donis »

Umrisse Nacht

Ich erinnere mich noch genau an den Abend,
an dem ich auf der Terrasse saß und in meinem
Laptop vertieft war.

Im Hintergrund dröhnten Wasserpumpen, es waren
angenehme achtundzwanzig Grad in Berlin, wobei die
Hitze, die an diesem Nachmittag abgeklungen war, tat ihr
übriges und ließ die ganzen Pflanzen austrocknen.

Durch das Wasser, mit dem die Gärten bewässert wurden,
stieg die Luftfeuchtigkeit an, aber dennoch wagte ich mich
nach draußen zu setzen, um das Erlebte aufzuschreiben.

Als der Wind sacht über meinen Garten zog, kam ein für
mich ziemlich bekannter Geruch hoch, der mich zunächst
entspannte, dann mich aber innerlich sterben ließ.
Es war der zarte Lilienduft, der mich an meine Freundin
erinnerte, die immer eine ähnliche Parfümnote auf ihrer Haut trug.

Aus diesem Grund erhielt sie von mir den lieblichen Kosenamen:
„Azucena.“ Spanisch für „Lilie“.
Die Aussprache ist wunderschön, was zu meiner Freundin
auch passte, da sie eine wahre Schönheit war.

Es musste, ich glaube, dass es der 21.07.2022 war, als
ich in der U7 saß und in Richtung „Rudow“ fuhr.
Meine Freundin, lag zu diesem Zeitpunkt in der onkologischen
Station der Charité, sodass sie mich gebeten hatte, in
ihre Wohnung zu gehen, um ihr Kleidung zu holen.

Als die U-Bahn in den Bahnhof „Lipschitzallee“
einfuhr und ich den feuchten, ja schon bunkerartigen Bau
verließ, in dem der Schimmel anfing, das Graffiti zu überwachsen,
begrüßte mich ein melancholisch-dunkelgrauer Himmel,
der irgendwie zu dem Elend des Ortes passte.

Vor allem die Wohnblöcke, die im grauen und brutalistischen
Stil erbaut wurden, schienen sich mit dem gleichfarbigen
Himmel zu verschmelzen, sodass man nur schwer die einzelnen
Gebäude vom Hintergrund trennen konnte.

Die Gropiusstadt, in der ich unterwegs war, war schlichtweg
ausgestorben, was mir persönlich als ungewöhnlich erschien,
da ich bloß das pulsierende, das lebende und das nie zur Ruhe
kommende Neukölln in Erinnerung hatte.

Diese neue Beobachtung war für mich einerseits neu,
anderseits empfand ich diese als bedrohlich, da Neukölln so
unberechenbar war und immer noch ist, sodass ich mit
einem wohlmöglichen Überraschungsangriff rechnete.
Es hätte mich – wahrhaftig – nicht erstaunt, wenn sich der
ein oder andere Dieb die Dunkelheit zu Nutze gemacht hätte,
um mich zu überfallen.
Und dann würde er so schnell wie er auch gekommen
war in der Nacht mit seiner Beute verschwinden.

Inzwischen mochte es gegen vier Uhr dreißig gewesen sein,
als ich die Wohnungstür aufschloss und in diese hineintrat.
Sofort schlug mir ein Pfefferminzöl-Geruch entgegen,
das bei der Suche nach dem Lichtschalter immer
intensiver wurde.

Als das Licht dann endlich die Wohnung erhellte und
meine Freude langsam abklang, kam ihn mir ein ungewohntes
Gefühl hoch.

Es kam mir alles vertraut vor, aber ich fühlte mich fremd.
Mich empfing scheinbar die „fremde Vertrautheit“, die
meinen Körper durchzog und meinen Geist rücksichtlos lähmte.
Alles ist beim Alten geblieben, nichts hatte sich verändert.
Es fühlte sich an, als wäre ich unwillkommen, aber trotzdem
entschloss ich mich zu bleiben.

Ich schaltete den Fernseher ein, fokussierte mich
aber auf die Wohnung.
Etwas stimmte hier nicht.
Wieder fühlte es sich so an, als hätte mir die
„fremde Vertrautheit“ einen Schlag ins Gesicht verpasst, bloß
schmerzte dieser Schlag noch mehr.

Ich verstand nicht, was los war. Bis sich die
Schlafzimmertür öffnete, aus der ein Mann herausschritt,
wobei ich unwillkürlich zusammenzuckte.

„Ah, du bist es, Rafael“, sagte der Mann.
„Ich wusste gar nicht, dass Sie auch hier sind. Ich wollte Sie nicht stören.“
„Das ist schon in Ordnung. Die Trauer ist eine Störung wert.“
„Was meinen Sie damit? Fühlen Sie sich hier auch so unwillkommen?“
„Und wie.“
„Wissen Sie auch den Grund dafür?“
„Die Wohnung hat keinen Besitzer mehr.“
„Sie meinen?“

„Linda ist tot“, sagte der Mann und verließ, ohne ein
weiteres Wort zu verlieren, die Wohnung und ließ mich alleine.
Geschockt lief ich wieder ins Wohnzimmer, wo ich auf Couch fiel
und um mich umsah.

Neben der Couch, auf der ich lag, erkannte ich menschliche Umrisse.
Zitternd streckte ich meinen Arm aus, um die Silhouette zu
berühren, doch von einer Sekunde zur anderen verschwand die
Kontur, sodass nicht nur Lindas Körper, sondern jetzt auch
noch ihre Seele die Welt für immer verließ – Umrisse Nacht.


Berlin-Karlshorst;
28.03.2023
Sie wünschen uns Missgunst, aber die Kunst ist mit uns...
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