Zu Les- und Schreibart eines einfachen Haiku

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juergen h.
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Zu Les- und Schreibart eines einfachen Haiku

Ungelesener Beitrag von juergen h. »

Jemand und das Haus

Das ist die Ausgangslage. Es gibt keine Tageszeit, keine Jahreszeit, das Haus ist kein Schuppen und kein - weil nicht als solches bezeichnet - Schulhaus.
Es ist nicht bekannt, ob es bewohnt wird oder welchen Zweck das Haus erfüllt. Würde man das Wort Haus erklären, kämen Begriffe wie: Mauern, Dach, Tür, Fenster - daher. Das alles ist nicht nötig, weil das Wort Haus selbsterklärend ist.
Auch die Bauweise ist vorläufig nicht wichtig - sie ist nicht wichtig für das Wort Haus, für das Gedicht.

Wer ist jemand? Niemand bestimmter, kein Mann, keine Frau und kein Kind. Irgendjemand? Nein, denn dann wäre festgelegt, dass die Wahl zufällig auf jeden/jede beliebige Person fallen könnte.
Also ist auch das Wort 'jemand' in dieser Zeile nicht zufällig und nicht beliebig.

Wie kann man nun aus diesen beiden Wörtern ein Gedicht formen, das über die getroffene Feststellung hinausgeht? Eine zweite Formulierung ist bereits aussagekräftig:

Das Haus - und jemand

Der Bindestrich markiert einen Wechsel, zum Beispiel eine andere Blickrichtung des Beobachters (Lesers), der Haus und Person nacheinander erfasst. Dieser kleine Eingriff bewirkt, dass 'jemand' mit dem Haus in Verbindung stehen könnte - jemand kommt aus dem Haus, jemand geht in das Haus oder zum Haus, jemand sieht aus dem Haus oder geht am Haus vorbei.
Das Umstellen der Wörter bewirkt, dass sich ein Spannungsbogen aufbaut, den man nicht erklären kann, nicht erklären soll.

Wie geht es weiter?

Das Haus - und jemand
gießt die Blumen
am Fenster

Nun ist das Haus bewohnbar geworden, ein Wohnhaus - die Blumen deuten darauf hin. Jemand wurde beauftragt, die Blumen während der Abwesenheit zu gießen, und dieser Jemand ist zum Beispiel ein Familienmitglied, aus dem Freundeskreis oder zumindest der Nachbarschaft des Hausbewohners. Nichts Außergewöhnliches passiert, man nimmt es - seiner ansichtig - nur beiläufig zur Kenntnis.
Jedenfalls ensteht durch die Abfolge der Eindruck, dass die Blumen am Fenster selbstverständlich zu diesem Haus gehören, und auch der- oder diejenige, der die Blumen gießt.

Ordnet man die Wörter in einer anderen Reihenfolge, entsteht dieses Bild:

Das Haus - und jemand
am Fenster
die Blumen gießt

Nun entsteht der Eindruck, dass sich der 'Blumengießer' im Haus befindet, was vorher überhaupt nicht klar gemacht oder angedeutet werden konnte. Plötzlich stellen sich viele Fragen: ist das Fenster geöffnet, oder sieht man den Blumengießer durch die geschlossenen Scheiben, sieht man überhaupt nur eine Hand und die Gießkanne dazu, bewegen sich dabei geräuschlos Vorhänge - und wie ist eigentlich das Wetter draußen vorm Haus?

Es kann jedes beliebige Wetter herrschen, von bewölkt bis Sonnenschein, und jede beliebige Jahreszeit - es ist vorerst nicht entscheidend, ob es sich um Blumen im Haus, am Fensterbrett, oder Blumen im Blumenkasten außerhalb des Fensters handelt. Nur der Winter fällt als Jahreszeit aus - die Blumen als Jahreszeitenwort haben die Jahreszeit vorgegeben, Frühsommer oder Sommer.
Alles das muss nicht erzählt werden. Diese Bedeutungen ergeben sich durch den Eigensinn der Wörter selber.
Man stelle sich vor: es regnet. Und dann beobachtet man jemanden, der in einem Haus die Blumen gießt. Muss man extra darauf hinweisen, dass es regnet? Muss man nicht. Doch es gehört zu diesem Gedicht, es funktioniert erst mit diesem dazugehörigen Detail, das der Leser einbringen muss. Das Erstaunen, das dieses Haiku hinterlässt, wird durch den Vorgang des 'Gießens' hervorgerufen - der Regen gießt das Haus, das Fenster möglicherweise ebenfalls, und man beobachtet jemanden, der im Haus die Blumen gießt.

Das Haus
Ein Fenster
Es regnet
Jemand gießt die Blumen

Das Haus - und jemand
am Fenster
die Blumen gießt

Die Formulierung 'gießt die Blumen' wäre logischer, doch es geht dann gedanklicher Freiraum verloren, in dem man den (unerwähnten) Regen beim Gießen des Fensters erwarten könnte.
Die Formulierung 'der Blumen gießt' würde den 'Jemand' des Haiku klarer umreißen und auf sein Geschlecht hinweisen - das jedoch ist dem Beobachter nicht möglich, sondern wird vom Dichter vorgegeben. In diesem Fall wäre die Wendung eher unglücklich, weil es einfach nicht üblich ist, dass Männer Blumen gießen. Doch auch das wäre eine Überraschung wert - nicht jedoch in diesem kleinen beiläufigen Haiku, das wenig sagt und viel meint.
Aber das Thema gibt noch einiges mehr, besseres, her. Was beschrieben wurde - die Gedanken, die mir beim Schreiben durch den Kopf gingen.

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